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Regisseur Rasmus Gerlach im Gespräch mit René Martens über seinen

Dokumentarfilm „Gefahrengebiete, Gipfel & andere Hamburgensien“, uraufgeführt auf dem Filmfest Hamburg 2015.


Seit dem Jahreswechsel 2013 / 14 ist einer breiteren Öffentlichkeit in Hamburg der Begriff Gefahrengebiete bekannt. Mit dem Verweis auf eine entsprechende Regelung rechtfertigt die Polizei seit damals ihre Versuche, auf Proteste in verschiedenen Stadtteilen mit „verdachtsunabhängigen Kontrollen“ und temporären Aufenthaltsverbote zu reagieren. Dem einen oder anderen werden noch die Klobürsten in Erinnerung sein, die damals zum Symbol des Protests gegen die Gefahrengebiete wurden. Wie kommt man auf die Idee, sich in einem Dokumentarfilm so intensiv mit dem Thema Gefahrengebiete zu beschäftigen?


Weil es bisher keine Geschichtsschreibung zur Klobürstenrevolution gibt und weil die Gefahrengebiete immer noch nicht vom Tisch sind. Die Hamburger Polizei hält an dieser Regelung fest, obwohl das Oberverwaltungsgericht Hamburg im Mai 2015 entschieden hat, dass die Gefahrengebiete verfassungswidrig sind. Uns war aufgefallen, dass es in der Bevölkerung kein allgemeines Bewusstsein für das Thema Gefahrengebiete gibt, auch nicht bei den Leuten, die in den Gefahrengebieten St. Pauli und St. Georg leben: Viele Bürger sind der Meinung, die Gefahrengebiete seien nach der Klobürstenrevolution abgeschafft worden. Das trifft zwar für einige Bereiche der Stadt zu, aber nicht für St. Pauli und St. Georg, denn die sind seit 1995 dauerhafte Gefahrengebiete, also quasi Notstandszonen. Ein weiterer Antrieb für „Gefahrengebiete & andere Hamburgensien“ war, dass ich selbst in Altona-Altstadt wohne, in der Nähe der Wache Mörkenstraße - in einer dieser dauerhaften polizeilichen Sonderrechtszonen. Ich wurde selber schon mehrfach sehr scharf kontrolliert, was so gar nicht zum gemütlichen Altona passt.


In Deinem vorigen Film „Lampedusa auf St. Pauli“ spielt, wie der Titel es nahe legt, der Stadtteil St. Pauli eine maßgebliche Rolle, in dem aktuellen Film auch. Welche konkreten inhaltlichen Verbindungslinien gibt es zwischen diesen beiden Dokumentarfilmen?


Dem früheren Bundestagsabgeordneten und Ex-Polizisten Thomas Wüppesahl, der sich auch heute noch kritisch mit Vorgängen bei der Polizei befasst,  ist aufgefallen, dass die polizeiliche Informationspolitik in Sachen Gefahrengebietsthematik an Desinformationstrategien in Kriegssituationen erinnert. Das gilt insbesondere für die Verbreitung der Legende, es habe am letzten Wochenende des Jahres 2013 ein Angriff auf die Davidwache stattgefunden. Tatsächlich handelte es sich dabei um einen Angriff auf Polizisten, der sich 150 bis 200 Meter von der Wache abspielte. Das ist natürlich ein beträchtlicher Unterschied. Der vermeintliche Angriff auf das Polizeirevier war dann Anfang Januar 2014 eines der Argumente dafür, die bestehenden Gefahrengebietsregelungen anzuwenden und weitere temporäre Gefahrengebiete auszurufen. Ich bin somit als Filmemacher zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit mit Desinformationsstrategien der Polizei konfrontiert worden. Denn bei den Recherchen und Dreharbeiten für „Lampedusa auf St. Pauli“ hatten wir die rassistischen Kontrollen der Lampedusa-Flüchtlinge durch die Polizei dokumentiert: Obwohl die Flüchtlinge allesamt ihre Ausweise beim Bezirksamt Mitte vorgelegt hatten und die Dokumente dort kopiert worden waren, hat die Polizei so getan, als wisse sie nicht, wer die Flüchtlinge seien. Es wurde etwas inszeniert, um einen Eindruck zu erwecken, also den, die Flüchtlinge wollten ihre Identitäten verschleiern. Darüber gab es eine komplexe Korrespondenz mit verschiedenen behördlichen Stellen, die damit befasst waren, aber keiner der Angefragten war bereit, sich öffentlich zu äußern.

Hast Du die Interviews für den vorigen Film angefragt oder den aktuellen?

Sowohl als auch. Für „Gefahrengebiete & andere Hamburgensien“ ein weiteres Mal. Die Kontrollen der Lampedusa-Flüchtlinge haben ja auch einen zumindest kleinen Teil zu dem Unmut beigetragen, der letztlich in der Klobürstenrevolution mündete. Die Tatsache, dass die Polizei für ein Interview nicht zur Verfügung stand, erhärtet ja noch den Verdacht, dass es sich bei der öffentlichen Darstellung der Passkontrollen um eine Desinformationsstrategie handelte. Als ich angefangen habe zu recherchieren, war ich naiv und dachte: Wieso hat die Polizei denn eigentlich keine Broschüren über die Gefahrengebiete verteilt? Mittlerweile denke ich, dass es von den Polizei ja total dumm wäre, dies zu tun, denn die Taktik besteht ja darin, dass die Leute nicht Bescheid wissen - und man sie quasi in flagranti erwischen kann.

Während der Klobürstenrevolution wurde teilweise die Bevölkerung zu einer Tätergruppe ernannt, der man misstraut und die man hinters Licht führt. Für „Gefahrengebiete & andere Hamburgensien“ habe ich auch noch aus anderen Gründen Anfragen an die Polizei gerichtet. Ebenfalls vergeblich.

Am 21. Dezember 2013 hat die Polizei im Schanzenviertel eine Demonstration für den Erhalt der Rote Flora gestoppt, bevor sie überhaupt begonnen hatte. Die Ereignisse an diesem Nachmittag spielen eine wichtige Rolle in den Film.

Das Aggressionspotenzial der Polizei war außergewöhnlich an diesem Tag. Sie hat so brutal agiert, dass viele meiner gefilmten Szenen für Kinder ungeeignet sind. Ähnliches trifft auch auf eine Szene zu, die am selben Abend bei der Demo für den Erhalt der Esso-Häuser auf dem Kiez entstanden ist. Ich habe eine Frau gefilmt, die extrem blutig geschlagen worden war. Diese Bilder kommen im Film aber letztlich nicht vor, weil sie mich darum gebeten hat. Trotz dieser Heftigkeit sind die Erlebnisse erst einmal in eine Art Erinnerungslücke gefallen. Der allererste Schritt in Richtung Film war ein kleiner Zusammenschnitt aus meinem selbstgedrehten Gefahrengebietedemo-Material, den ich auf meinem Geburtstag acht Monate nach der Klobürstenrevolution gezeigt habe.

Wie ging es weiter?

Eine entscheidende Rolle spielte das türkische Staatsfernsehen TRT, das mich kurz vor dem Jahrestag angemailt hat, ob ich erzählen könne, was es mit der Klobürstenrevolution auf sich hatte. Die hatten im Internet gelesen, dass ich im April 2014 mit einigen anderen zugunsten von Repressionsopfern Hamburger Law-and-Order-Politik „Die lange Nacht der Solidarität“ organisiert hatte und haben so meine Mail-Adresse herausgefunden. Es ist manchmal ganz hilfreich, dass einen zufällig wieder jemand auf ein Thema stößt. Die Mitarbeiter des Senders hatten sich auch gewünscht, dass die Rote Flora was dazu sagt. Ich war dann dreimal bei Plena dort und habe versucht, die Leute davon zu überzeugen. Das Flora-Plenum hat dazu gesagt, das türkische Fernsehen wolle nur von den Menschenrechtsverletzungen im eigenen Land ablenken, man habe daher kein Bedarf, denen Hilfestellung zu geben. Immerhin haben dann entscheidende Aktivisten der Klobürstenrevolution am TRT-Film mitgewirkt und Interviews gegeben.

Ein Thema des Films ist die Gentrifizierung innerstädtischer Gebiete, aufgehängt vor allem am - letztlich vergeblichen - Kampf gegen den Abriss der Esso-Häuser auf der Reeperbahn. Was hat das mit den Gefahrengebieten zu tun?

Wenn ich mit Leuten über das Thema Gefahrengebiete gesprochen habe, kam immer auch schnell der Begriff Gentrifizierung ins Spiel, das kommt ja auch in einigen Film-Interviews zum Ausdruck. Deren These lautet, dass es eine Verbindung, einen inneren Zusammenhang gibt zwischen dem Umbau ganzer Stadtteile und der Anwendung der Gefahrengebietsregelung dort. Was man auf jeden Fall sagen kann: Die Polizei hat die Möglichkeit in bestimmten Stadtteilen, in denen ein sehr investitionsfreudiges Klima herrscht, stärker durchzugreifen.

Es gibt auch in München Gefahrengebiete - das konnte ich teilweise miteinbeziehen. In Wacken gibt es ein sporadisches. Gefahrengebiets-Regelungen gibt es zudem in Köln und Neumünster. In Köln basieren sie auf ähnlichen Gewaltszenarien wie in Hamburg, aber das wäre noch genauer zu untersuchen. Ich bin ja der Erfinder der dokumentarischen Work-in-progress-Methode. Die ermöglicht es mir, dass ich, wenn neues Material auftaucht, die Filme verändern kann. Alle Filme, die ich seit 1997 gemacht habe, habe ich noch auf Festplatte. Die stehen sozusagen offen für Überarbeitungen.


Seit wann wendest Du diese Work-in-Progress-Methode an?


In „Ich war eine Seriennummer" von 1997 zum Beispiel, da geht es um Personen, die gezwungen wurden, im KZ Sachsenhausen Geld zu fälschen. In dem Rahmen hatte ich an das Rote Kreuz, das einen internationalen Suchdienst betreibt, einen Brief geschickt. Nach rund zehn Jahren kam eine Antwort, dass man noch jemanden gefunden hatte. Den konnte ich dann noch interviewen und in den Film einfügen.


Vom Lampedusa-Film habe ich auch gerade wieder eine neue Version geschnitten, die wird „Lampedusa auf St. Pauli. Langzeitbeobachtung“ heißen, damit klar wird, dass meine Arbeit weitergeht.


Du bist auf verschiedene Weise in Deinen Gefahrengebiete-Film involviert: als Chronist, als politisch aktiver Bürger, der an Demonstrationen teilnimmt, als Experte, der vom türkischen Fernsehen interviewt wird - und, so viel sei zumindest angedeutet, ohne zu viel vorwegzunehmen, nicht zuletzt als jemand, der selbst von der Gentrifizierung betroffen ist. Wie kam es dazu, diesen Aspekt in den Film einzubauen?


Ich selber wohnte in einer baufälligen Mietwohnung im Schanzenviertel, die mittlerweile in eine sogenannte Stadtvilla umgewandelt worden ist. Ich hatte, wie die Bewohner der Esso-Häuser, auch Risse in den Wänden. Die Risse in den Esso-Häusern waren verglichen mit denen in meiner Wohnung aber eher Haar - Risse. Meine Mutter sagte damals, unser Mietshaus würde bald einstürzen. Ich habe - ähnlich wie die Bewohner der Esso-Häuser, aber auch andere Gentrifizierungsbetroffene, mit denen ich für den Film gesprochen habe - erfahren, wie in solchen Situationen Druck aufgebaut wird, wie Leute plattgemacht werden, und wie einen eine ganze Reihe von psychologischen Maßnahmen dazu bringen zu sagen: Jetzt räume ich mein Feld. Bei den Esso-Häusern war aus der Sicht der Umwandler und Abreißer der Pluspunkt, dass die Bewohner im Dezember 2013 aus fadenscheinigen Gründen evakuiert wurden. Wer immer das auf behördlicher Seite verfügt hat, hat sehr im Sinne der Umwandlung des Stadtteils gehandelt. Dass es dann später dank der „PlanBude“, einer Einrichtung, die die Beteiligung der Bürger an dem Planungsprozess des Esso-Häuser-Nachfolgebaus ermöglichte, gelingen würde, diese Umwandlung zumindest teilweise in eine andere Richtung zu lenken - das war ja damals noch nicht abzusehen


Die Bilder aus der „PlanBude“, die im Film zu sehen sind, wecken zumindest einen gedämpften Optimismus.


Sagen wir es mal so: Mit der Schaffung der „PlanBude“ konnten jene, die den Kampf um den Erhalt der alten Esso-Häuser verloren hatten, zumindest einen Teilerfolg erringen. Andererseits sind manche Dinge aber auch so abgelaufen wie bei anderen Neubauverfahren. Ich kann mich an eine Veranstaltung erinnern, auf der von der Bevölkerung der Vorschlag kam, dass es gut wäre, in dem neuen Gebäude ein kleines Kino oder alternativ oben auf dem Dach ein Art Open-Air-Kino einzurichten. Für diese Vorschläge gab es die höchste Zustimmung. Es gab sogar den Bürgerwunsch, beides zu planen – ein Kino an der Ecke und ein Open-Air-Kino auf dem Dach. Erstaunlicherweise ist davon in den tatsächlichen Planungen nichts übrig geblieben. Solche Erfahrungen haben letztlich dazu beigetragen, dass ich den Film eher grüblerisch angelegt habe – mehr als Cineast denn als Stadtplaner.